Felix Schittig
UX
Arbeiten
Digitalisierung
6.9.2023

Nutzer:innenzentrierung – Was will meine Zielgruppe?

Weiter geht's mit meiner Reihe zum Thema “Nutzer:innenzentrierung”. In Teil 1 erkläre ich, warum wir die Nutzer:innen in den Fokus der Entwicklung stellen. Doch wer sind meine Nutzer:innen eigentlich? Und welche Parameter muss ich bei der Entwicklung meines Produkts beachten, um es perfekt auf meine Zielgruppe abzustimmen?

Research – Wie lerne ich meine Nutzer:innen kennen?

Bevor ich etwas auf eine:n Nutzer:in ausrichten kann, muss ich diese:n natürlich erst einmal kennen. Wir müssen also herausfinden, wer unsere Nutzer:innen sind und wie sie ticken. Gibt es etwas, das meine Zielgruppe verbindet oder von anderen abgrenzt?

Je nach Art des Projekts gibt es geeignete Methoden, um die Bedürfnisse der eigenen Nutzer:innen kennenzulernen. Dazu gehören zum Beispiel:

  • Markt- und Branchenanalyse
    In welchem Markt wird das Produkt existieren? Analysiert werden Trends und Wettbewerber, potenzielle Chancen und Herausforderungen.
  • Desk Research
    Informationen über eine Zielgruppe kann man hervorragend über öffentlich zugängliche Daten und Quellen sammeln. Verschiedene Plattformen bieten Studien, Umfragen, Berichte, Artikel und Statistiken.
  • Umfragen
    Einfach mal nachfragen! Mit Online-Umfragen oder Fragebögen werden gezielte Fragen an potenzielle Nutzer:innen gestellt.
  • Social Media-Analyse
    Untersuchung und Beobachtung der sozialen Medien, um zu verstehen, was in der entsprechenden Zielgruppe diskutiert und geteilt wird und welche Meinungen sie äußert.
  • Google Analytics und Webanalysen
    Nutzen von Webanalysen, um das Verhalten der Nutzer:innen auf der (aktuellen) Website oder in einer App zu verfolgen und Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wer die Nutzer:innen sind.
  • Personas
    Basierend auf den gesammelten Daten können fiktive "Personas" erstellt werden, die typische Vertreter:innen der Zielgruppe darstellen. Diese helfen dabei, die Zielgruppe besser zu verstehen und die Marketing- und Produktstrategie entsprechend anzupassen.

Nutzwert – Probleme lösen … von denen (noch) keiner weiß.

Ein weiterer wichtiger Faktor für das perfekte Nutzungserlebnis ist der Nutzwert des Produkts. Dieser steigert die Zufriedenheit der Nutzer:innen und ist maßgeblich für einen langfristigen und vertrauensvollen Beziehungsaufbau. Zu diesem Thema gibt es das bekannte analoge Beispiel einer Fast-Food-Kette, die Milchshakes verkauft:

Eine eingehende Marktforschung hat ergeben, dass die meisten Milchshake-Käufer Pendler auf dem Weg zur Arbeit waren. Diese hatten früh morgens noch keinen großen Hunger und wollten daher lieber einen Milchshake als etwas Festes. Außerdem bröseln Milchshakes nicht, sie lassen sich mit einer Hand konsumieren und man hat eine Weile etwas davon – er hilft also auch gegen Langeweile beim Pendeln.

Der Nutzwert liegt also manchmal an einer anderen Stelle, als Anbietende vielleicht zunächst vermuten. Mit dieser Erkenntnis kann man das Produkt wesentlich besser optimieren und herausfinden, welche Produkte in den Augen der Nutzer:innen wirklich damit konkurrieren. Bei digitalen Produkten lässt sich der Nutzwert oft einfach skalieren – erfolgreiche digitale Produkte haben häufig radikale Nutzenversprechen:

Versetzen wir uns mal zurück in das Jahr 2004. FreeMail-Dienste wie beispielsweise web.de hatten damals einen kostenlosen Speicherplatz von 12 MB. Am 1. April 2004 ging Google Mail online – mit 1 GB kostenlosem Speicherplatz. Am Anfang hielten das die Leute für einen Aprilscherz, ein halbes Jahr später mussten alle nachziehen. Das Versprechen ist einfach: Nie wieder eine Mail löschen oder sortieren. Stattdessen sind die Mails so einfach und schnell durchsuchbar wie das Web.

Wenn wir es schaffen, den Nutzenden einen größeren Nutzwert zu bieten als die Konkurrenz, programmieren wir quasi das Marketing mit in das Produkt ein.

Service-Dominierte Logik – Der Wert der Dienstleistung

Eng verknüpft mit der Nutzer:innenzentrierung, ist die Betrachtung von Produkten als Service-Pakete. In der Produkt-Dominierten Logik hat das Produkt zum Zeitpunkt des Kaufs bereits seinen vollen Wert, denn dieser ergibt sich aus Produktion, Marketing, Logistik etc.

In der Service-Dominierten Logik (SDL) hingegen ist das physikalische Produkt nur noch der Distributionsmechanismus, und der Wert des Produkts wird erst durch die damit verbundenen Services vervollständigt. Apple hat hier mit der reibungslosen Integration von Hard- und Software, wie beispielsweise beim iPhone, die Messlatte gelegt. Eine gut bedienbare Software-Ebene definiert so den Gebrauchswert des Produkts maßgeblich mit und prägt die Nutzungserfahrung entscheidend.

Darüber hinaus werden in der SDL Dienstleistungen sogar als Hauptquelle von Wert betont – losgelöst von einem Hardware-Produkt. Kund:innen und Anbietende vernetzen Ressourcen, kreieren Wert gemeinsam, betonen den Nutzen, sehen Dienstleistungen als Prozesse und pflegen langfristige Beziehungen. Dieser Ansatz verschiebt den Fokus von Produkten zu kund:innenenorientierten, co-kreativen Dienstleistungs-Erlebnissen. Und wieder steht der oder die Nutzer:in im Fokus.

Co-Kreation: Alle machen mit.

Apropos Co-Kreation – hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Der Wert eines Produkts ist ohne Mitwirkung der Benutzer:innen gleich null – und die Art der Mitwirkung ist entscheidend. Man nennt das Co-Kreation/Co-Creation. Dieses Konzept ist eng mit dem der Nutzer:innenzentrierung verknüpft.

Wenn wir es schaffen, den oder die Nutzer:in in den Produktprozess mit einzubeziehen, können wir ein persönlicheres Nutzungserlebnis und relevantere Inhalte bieten, da Produkte und Dienstleistungen besser auf die Bedürfnisse und Wünsche ausgerichtet werden können. Dies beginnt bei der aktiven Beteiligung der künftigen Nutzer:innen im Erstellungsprozess und geht bis hin zu User Generated Content in den sozialen Medien.

Denn in der digitalen Welt wird der Wert sogar oft durch die Anwender:innen selbst erst generiert. Er entsteht durch die Interaktion zwischen Anbieter:innen und Nutzer:innen. Letztere sind aktiv an der Gestaltung von Dienstleistungen und der Wertschöpfung beteiligt. Dies bedeutet, dass die Erfahrung und die individuellen Bedürfnisse der Nutzer:innen im Mittelpunkt stehen.

In der Zeit vor dem PC waren die Nutzer:innen meist reine Konsument:innen, wie beispielsweise beim linearen Fernsehen. In vielen erfolgreichen digitalen Plattformen nehmen sie nun bewusst oder unbewusst selbst Einfluss auf das, was sie sehen.

Beispielsweise werden auf Google die Suchergebnisse anhand der persönlichen Suchhistorie individualisiert oder das Seh-Verhalten auf Netflix oder anderen Streamingdiensten dokumentiert und gelenkt.

Facebook überlässt die komplette Inhaltserstellung seinen Nutzer:innen, ein:e Nutzer:in erschafft somit den Wert der Plattform für andere.

Casualness – Beiläufig Nutzer:in werden

Mit Casualness bezeichnet man das Vorgehen, digitale Produkte möglichst niedrigschwellig und hindernisarm anzusetzen, sodass die Nutzer:innen beim beiläufigen Ausprobieren überzeugt werden. Die Nutzungserfahrung soll möglichst locker und informell sein und eher natürliche, alltägliche Interaktion nachahmen. Der Zweck von Casualness ist es, die Benutzungsfreundlichkeit und Zugänglichkeit zu erhöhen, indem eine entspannte und vertraute Umgebung geschaffen wird, in der die Nutzer:innen sich wohlfühlen und auf natürliche Weise mit dem Produkt interagieren können.

Diese Entwicklung spiegelt sich in den Designs und den Prozessen von interaktiven Produkten, aber auch in deren Sprache wider. So schafft beispielsweise in Webshops eine freundliche, informelle Sprache eine ungezwungene Atmosphäre, was wiederum zu höheren Interaktionen führt: Von “Sehen Sie sich hier unsere Sitzmöbel an und kaufen Sie direkt im Shop!” zu “Entdecken Sie jetzt Ihren neuen Lieblingsstuhl!" oder “Das könnte dir auch gefallen”.

Ein Vorreiter in Sachen Casualness war “doodle”, das sich schnell als Tool zum Organisieren von Terminvorschlägen etablierte. Der oder die Nutzer:in kommt in der Regel zum ersten Mal damit in Kontakt, wenn er von jemandem gebeten wird, dort seine Verfügbarkeit einzutragen. Der oder die neue Nutzer:in muss dann keine Anmeldung oder Ähnliches erdulden, sondern kann einfach bei jedem Termin auf ja oder nein klicken, Namen eingeben und fertig. So wird er oder sie in kürzester Zeit zum oder zur doodle-Nutzer:in.

Jetzt weiß ich, was meine Zielgruppe will – aber wie geht es nun weiter?

Wir wissen nun, wie wir unsere Nutzer:innen kennenlernen können und welche Faktoren ein nutzungsfreundlich gestaltetes Digitalprodukt ausmachen. Doch wie kann ich diese in die Umsetzung integrieren, worauf muss ich achten und wie kann ich meine Arbeitsprozesse gestalten? Das verrate ich euch im nächsten Beitrag.